1. Juni 2022Als Charles Leslie und Fritz Lohman 1969 zum ersten Mal die Öffentlichkeit einluden, ihre Kunstsammlung in ihrem Loft in Soho zu besichtigen, hätten sie mit einer Geldstrafe belegt oder sogar verhaftet werden können. Viele der Werke waren offenkundig homoerotisch, und die damaligen Gesetze wurde immer noch zur Zensur und Kontrolle der schwulen und lesbischen Bevölkerung von New York City eingesetzt. Hunderte Menschen mehr als erwartet strömten in die Ausstellung, und es wurde klar, dass die Stadt einen solchen Kunstraum brauchte.
Einen Monat später befanden sich Leslie und Lohman am Beginn einer neuen Ära, als der Stonewall-Aufstand die homosexuelle Freiheitsbewegung auslöste. Doch die Kunstwelt blieb weitgehend zurückhaltend gegenüber Homosexualität und lehnte die Künstler*innen, die Leslie und Lohman kannten und sammelten, weiterhin ab.
Also eröffneten sie in einem Keller in der Prince Street eine Galerie, in der sie ihre ständig wachsende Sammlung von Werken homosexueller Künstler*innen wie beispielsweise Neel Bate, George Platt Lynes, Jack Shear und Andy Warhol ausstellten. (Das Paar war auch maßgeblich daran beteiligt, Soho von einem Geschäfts- in ein Wohnviertel umzuwandeln und viele der historischen von Gusseisen-Konstruktionen geprägten Gebäude zu erhalten.)
1990 gründeten sie die Leslie-Lohman Gay Art Foundation als gemeinnützige Organisation – eine hart erkämpfte Errungenschaft, wenn man bedenkt, dass es keinen vergleichbaren Vorläufer für eine Stiftung mit „Schwul“ im Namen gab – und im Jahr 2006 zog die Galerie in ein Ladenlokal in der Wooster Street 26 um, wo sie sich bis heute befindet. Diese Institution, die damals noch „Leslie-Lohman Museum of Gay and Lesbian Art“ hieß und heute einfach Leslie-Lohman Museum of Art, ist nach wie vor das einzige Museum für LGBTQ+-Kunst auf der Welt.
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Die Zeiten haben sich geändert, seit Leslie, ein Immobilieninvestor, und Lohman, ein Innenarchitekt, damit begonnen haben, eine Nische für homosexuelle Künstler*innen zu schaffen. Zum einen ist in der Kunstwelt nun auch Platz für LBGTQ+-Künstler*innen und zum anderen ist das Verständnis von „Queerness“ inzwischen viel inklusiver und umfassender. Diese Entwicklung hat es dem Museum ermöglicht, seine Präsenz und seinen Einfluss zu erhöhen und sich als rigorose und ehrgeizige Institution für zeitgenössische Kunst zu etablieren, die gleichzeitig einen Raum für marginalisierte Gruppen schafft.
In den letzten Jahren feierte die Einrichtung eine Reihe von Premieren. 2016 erhielt sie die offizielle Akkreditierung als Museum und stellte mit Gonzalo Casals ihren ersten Geschäftsführer ein (der später als Commissioner des New Yorker Amtes für Kultur im Einsatz war).
Im Jahr 2019 wurde der Wortlaut „Gay and Lesbian“ aus dem Namen gestrichen – ein Zeichen für die Ausweitung des Engagements auf queere und genderfluide Kunst und Künstler*innen. Außerdem wurde Stamatina Gregory als erste leitende Kuratorin eingestellt. Und im vergangenen Jahr ernannte das Leslie-Lohman Museum of Art mit Alyssa Nitchun seine erste sich als Frau identifizierende Geschäftsführerin. Nitchun war zuvor sieben Jahre bei Creative Time tätig, dem Veranstalter von sozial engagierten, innovativen öffentlichen Kunstinstallationen in ganz New York.
„Einerseits ist das Leslie-Lohman ein Ort des Experimentierens, der Radikalität, der unbegrenzten Möglichkeiten und der Fantasie“, so Nitchun. „Andererseits ist es mir aber auch ein Anliegen, dass das Museum als Institution ernst genommen wird.“
Angesichts der zunehmenden Queer-Präsenz und der Tatsache, dass immer mehr LGBTQ+-Künstler*innen in der Mainstream-Kunstwelt vertreten sind, könnte man sich fragen, warum wir noch Museen wie das Leslie-Lohman brauchen.
„Ja, die Kunstgemeinschaft hat sich verändert, und man sieht mehr LGBTQ-Künstler*innen in Museen und Galerien, aber Leslie-Lohman ist nur für uns“, erklärt Dave Harper, Executive Director des New York City AIDS Memorial. „Man ist dort bereit, marktunabhängige Risiken einzugehen; Risiken außerhalb dessen, was kommerziellen Wert hat, abseits der Superstars der Kunst.“
In diesem Zusammenhang präsentiert das Leslie-Lohman Museum derzeit die erste Ausstellung in den Vereinigten Staaten mit Werken von Lorenza Böttner, einer deutschen Transgender-Performance-Künstlerin, Malerin und Tänzerin, die in ihrer Jugend beide Arme verloren hat und dennoch voller Kreativität geblieben ist. Im Jahr 1994 verstarb sie an den Folgen von HIV.
„Es handelt sich um eine Künstlerin, die noch nie in den USA ausgestellt wurde, die nicht Teil des kunsthistorischen Kanons ist, die nicht in Sammlungen zu finden ist und die dennoch diese zeitgemäße, weitreichende Überschneidung und Vielfalt von Identitäten repräsentiert. Und ihre Arbeiten sind wirklich gut“, fügt Nitchun hinzu. „Ich habe das Gefühl, dass das Leslie-Lohman Museum einen ganz besonderen Beitrag leisten kann.“
In den vergangenen Jahren hat sich das Museum auch mit den Überschneidungen verschiedener marginalisierter Identitäten befasst, darunter Queerness, ethnische Herkunft und Behinderung. Letztes Jahr wurde beispielsweise die erste umfassende Retrospektive der bahnbrechenden lesbischen Chicanx-Fotografin Laura Aguilar gezeigt, die offen über ihre Probleme mit psychischer Erkrankung sprach.
„Wir arbeiten daran, als Katalysator zu fungieren und neu zu überdenken, was es bedeutet, eine Kultureinrichtung zu sein, die all diesen verschiedenen Gruppen dient und sie einbezieht; und so sprechen wir über Fähigkeiten, Behinderungen und Transidentität und beziehen alle Communitys mit ein“, erklärt Aimée Chan-Lindquist, die Leiterin der Abteilung für externe Angelegenheiten des Museums.
„Das MoMA zeigt zwar diese Künstler*innen, aber wenn in einem Werk ein Schwanz zu sehen ist oder jemand seine Sexualität zum Ausdruck bringt, dann kommt es nicht an die Wand.“
Nitchun und ihr Team (zu dem mehrere Personen in neu geschaffenen Positionen gehören, darunter Director of Engagement and Inclusion J. Soto und Chan-Lindquist) haben nicht nur das Ausstellungsprogramm gestrafft, sondern auch eine Ankaufspolitik entwickelt, die sich stärker auf lebende Künstler*innen und in der Sammlung unterrepräsentierte Gruppen konzentriert.
Im Rahmen dieser Strategie haben sie das neue Programm „Interventions“ ins Leben gerufen, das zeitgenössischen Künstler*innen Stipendien für die Forschung und Auseinandersetzung mit Werken aus den Beständen des Museums bietet. Für die erste Intervention, die für den Winter 2023 geplant ist, hat der*die aus Honolulu stammende und in Los Angeles lebende Trans-Fotograf*in, Dokumentarfilmer*in und Performer*in Coyote Park (mit Vorfahren aus Korea, Yurok und Europa) homoerotische Arbeiten aus den 1990er-Jahren von Künstler*innen wie Yiannis Nomikos und Li Ming Shun neu inszeniert.
Die Anschaffungen des letzten Jahres spiegeln den zunehmend mutigen und ambitionierten Ansatz des Museums beim Aufbau seiner Sammlung wider. Darunter befanden sich Werke von Jonathan Lyndon Chase und Jeffrey Gibson – zwei Namen, die Liebhaber*innen zeitgenössischer Kunst bekannt sein dürften – sowie ein wichtiges Werk des*der Transgender-Künstler*in Cassils.
Cassils Installation besteht aus einem Glaskasten mit Hunderten Litern Urin, der auf einem Sockel steht und von den Gefäßen umgeben ist, die zum Auffangen und Aufbewahren der Flüssigkeit verwendet wurden. Der*die Künstler*in schuf das Werk als Reaktion auf die Aufhebung einer unter Obama beschlossenen Verordnung, die es Schüler*innen an öffentlichen Schulen erlaubt, Toiletten zu benutzen, die ihrer Geschlechtsidentität entsprechen, durch die Trump-Regierung. Die Präsentation, Lagerung und Aufbewahrung der Werke mag eine logistische Herausforderung darstellen, aber Nitchun lässt sich davon nicht abschrecken. „Wenn dieses Objekt nicht bei Leslie-Lohman ein Zuhause finden kann, wo dann?“, fragt sie.
„In Bezug auf Ankäufe und Sammlungen müssen wir der Ort sein – ein ‚ Wenn nicht hier, wo dann?‘-Ort“, fügt Chan-Lindquist hinzu. Diese Frage war von Anfang an ein Grundpfeiler des Museums. Charles Leslie und Fritz Lohman hatten zweifellos ein Gespür für Kunst, die nirgendwo anders hinzugehören schien – die Wohnung in Soho, die sie gemeinsam bewohnten, ist noch immer mit Bildern übersät, auf denen Penisse zu sehen sind. (Leslie ist 88 Jahre alt, Lohman starb 2010 im Alter von 87 Jahren.)
Während der AIDS-Krise in den 1980er-Jahren wurde ihr Sammeln noch wichtiger und aktiver, da sie Hunderte von Werken retteten, deren Schöpfer*innen gestorben waren.
„Sie erhielten ständig Anrufe: ‚So-und-so ist verstorben, und die Familie verbrennt die Kunstwerke.‘ Und so ging es mit dem Sammeln erst richtig los“, erzählt Nitchun. „Manche mögen das Museum dafür kritisieren, dass es in einer weißen, schwulen, cis-männlichen Kultur erstarrt ist. Andererseits kann man aber auch verstehen, dass es ein Zufluchtsort für eine Gemeinschaft war, und dass beide aus komplexen Gründen zusammenwuchsen.“
Im Laufe der Jahre ist die Sammlung auf mehr als 30.000 Objekte angewachsen, darunter Werke von in LGBTQ+-Kreisen bekannten Künstler*innen wie Mariette Pathy Allen, Donna Gottschalk, Jimmy DeSana, Hugh Steers und Eric Rhein. Aber es gibt auch viele bekannte Namen führender Persönlichkeiten.
„Wir haben Warhols und Mapplethorpes und Keith Harings, aber unsere sind viel repräsentativer für unsere Sexualität“, sagt Michael Manganiello, Vorstandsvorsitzender des Museumskuratoriums. „Das MoMA zeigt zwar diese Künstler*innen, aber wenn in einem Werk ein Schwanz zu sehen ist oder jemand seine Sexualität zum Ausdruck bringt, dann kommt es nicht an die Wand. Unser Leben wird aus diesen Museen verbannt. Und genau deshalb ist das Leslie-Lohman Museum so wichtig.“
2019 kündigte Manganiello ein Nachlassvermögen in Höhe von 500.000 US-Dollar und eine Sammlung von mehr als 150 Objekten an, darunter Kunstwerke von Peter Berlin, Mark Morrisroe, Jack Pierson und Tyler Udall.
Nitchun und ihr Team bemühen sich auch um andere Formen der Mittelbeschaffung. Im vergangenen Jahr haben sie gemeinsam mit der Stadt ein Renovierungsprojekt in Angriff genommen, das unter dem ehemaligen Geschäftsführer Casals begonnen wurde und nun in die Umsetzungsphase geht. Damit wird es dem Museum möglich sein, seine historische Fassade zu restaurieren und seine Ausstellungsfläche zu verdoppeln. Das Museum hat darüber hinaus weitere Fördermittel erhalten, um z. B. die Katalogisierung und Digitalisierung der Kunstsammlung und der umfangreichen Archive des Hauses voranzutreiben.
Zusätzlich zu diesen Projekten und der Kooperation mit 1stDibs arbeitet das Team gemeinsam mit Gucci an einer „Pride Month Queer Icons“-Gesprächsreihe und hat gerade eine Förderung von der Ford Foundation für Programme für queere Menschen mit Behinderung erhalten.
„Es zeichnet sich eine Entwicklung ab: Hin zu einer Art professioneller Stringenz in Bezug darauf, was wir als Museum erreichen wollen. Es ist wie eine Art Erwachsenwerden“, bemerkt Nitchun. „Wir haben beschlossen, uns langfristig einzubringen.“