MRS Couture-Gründerin Marci Rosenberg hat großes Interesse an den Narrativen, die die Mode geprägt haben. Die spannenden Geschichten hinter den Textilien – politisch, soziologisch, kulturell, wirtschaftlich oder kreativ –, das ist es, was sie fasziniert.
Wenn man sich ihren beruflichen Werdegang ansieht, ist es leicht zu verstehen, woher diese Faszination stammt. Die in Houston geborene Marci Rosenberg war Anwältin für Bürgerrechte und Rednerin für feministische Organisationen. Sie war in der Politik tätig, hat Mittel für Wohltätigkeitsorganisationen gesammelt und war im Kampf gegen Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit und Geschlechterungleichheit aktiv.
Als Tochter eines Textilhändlers gehörten hochwertige Stoffe zu ihrem Alltag. Auf eine Karriere in der Branche verzichtete sie jedoch, als das Aufkommen preiswerter und in Massen produzierter Kleidungsstücke dem Familienunternehmen die Existenzgrundlage entzog. Sie begann, sich mit Recht und Politik zu befassen, blieb aber ihrer ersten Liebe treu: der Erforschung der symbolischen und kommunikativen Rolle der Kleidung.
Über mehrere Jahrzehnte hinweg baute Rosenberg ein umfangreiches Archiv an Couture-Mode des 20. Jahrhunderts auf. Sie träumte davon, eines Tages ein Museum zu gründen – ein Plan, der nach wie vor besteht.
„Schon seit meiner Zeit am College wollte ich immer ein besonderes Museum eröffnen“, sagt Rosenberg. „Keines, das sich der Geschichte der Mode widmet, sondern ein Museum, das zeigt, wie Mode und sozialer Fortschritt miteinander verflochten sind.“ Im Jahre 2008 gründete sie das Unternehmen MRS Couture (MRS nach ihrem Ehenamen Marci Rosenberg Samuels), um Einnahmen für ihr ehrgeiziges Projekt zu generieren. Nun plant sie, innerhalb der nächsten zwei Jahre ein mobiles Museum zu eröffnen.
Gemeinsam mit drei Mitarbeitenden unterhält sie auf rund 600 m² Fläche ein reichhaltiges Archiv an Kleidungsstücken der 1920er- bis 1960er-Jahre, von europäischen und amerikanischen Designer*innen wie Jean Patou, Oscar de la Renta, Geoffrey Beene und Bill Blass.
Rosenbergs bedeutendstes Objekt ist vermutlich ein schwarzes Madame Grès-Seidenkleid aus dem Jahr 1969 mit riesigen, bauschigen Ärmeln, die wirken als seien sie aus einer Flutwelle herabfallenden Stoffs gefertigt. Madame Grès, eine Couture-Legende des 20. Jahrhunderts, deren Kleider wiederum Legenden wie Grace Kelly, Jackie Kennedy und Barbra Streisand trugen, ist für ihre raffinierten, von griechisch-römischen Skulpturen inspirierten Drapierungen berühmt. Eine braune Version dieses Kleids ist Bestandteil der ständigen Sammlung des New Yorker Metropolitan Museum of Art und war 2018 in der Ausstellung „Heavenly Bodies“ des Met Costume Institute zu sehen.
„Es ist spektakulär, einfach unglaublich – geradezu erhaben“, sagt Rosenberg und hat sichtlich Mühe, einen passenden Superlativ zu finden. Schließlich bringt sie es auf den Punkt: „Das ist die typische Madame Grès-Drapierung, hier in höchster Vollendung!“
Wie immer ist Rosenberg jedoch nicht nur von der puren Ästhetik beeindruckt: „Ich bin ein großer Fan wunderschön gefertigter Kleider und Stoffe. Damit mich ein Stück jedoch anspricht, muss es einen Anknüpfungspunkt haben, eine Art Anker“, erklärt sie. „Ich mag ‚vom-Tellerwäscher-zum-Millionär‘-Geschichten oder Geschichten von Menschen, die mit ihrem Handwerk für ihre Freiheit oder die Freiheit anderer gekämpft haben. So ein Mensch ist Madame Grès.“
Ihre Begeisterung für Grès sitzt tief. „Sie hatte eine unglaubliche Charakterstärke“, sagt Rosenberg über die jüdische Couturière, die als Germaine Émilie Krebs geboren wurde und später den Namen Alix Grès annahm. „Während des Zweiten Weltkriegs im besetzten Paris weigerte sie sich, Kleider für die Ehefrauen der Nazi-Offiziere anzufertigen. Sie war rebellisch und nähte sogar Kleider in den Farben der französischen Flagge.“
Zu ihren Idolen zählt Rosenberg auch die jüdisch-amerikanische Künstlerin und Designerin Vera Neumann, die die Materialknappheit nach dem Zweiten Weltkrieg mit kreativem Gespür überwand: Ihre malerischen Schals stellte sie aus überschüssiger Fallschirmseide her. „Ihre Accessoires sind so voller Freude“, sagt Rosenberg und zeigt einen Schal der Designerin aus den 60er-Jahren mit lebhaftem Blumenmuster. „Die Malerei – zunächst auf Leinwand und dann auf Seide – half ihr, die Leiden des Holocaust zu bewältigen.“
Ihren Schals hat Rosenberg einen ganzen Raum gewidmet – ein verborgenes Lager voller Wunderwerke aus Seide, jeweils sorgfältig aufgereiht wie Landesflaggen. „Die Mode hat mich um die ganze Welt geführt. Es ist wie in dem Film „Eine für 4“ – ich versuche, die Geschichte jedes Gegenstandes zu erkunden, den ich erwerbe. Der Ort, an dem ich etwas kaufe, hat oft überhaupt nichts mit der Herkunft des Objekts zu tun, die Tausende von Kilometer entfernt liegen kann. Ich frage mich dann: Wie ist es dort hingekommen und warum?“
Rosenberg begeistert Introspective mit weiteren Erzählungen von außergewöhnlichen Modetalenten, die von der Geschichte nicht nur berührt wurden, sondern sie mit geprägt haben.
Die Recherche über Designer*innen hat sicherlich einige erstaunliche Entdeckungen zutage gefördert. Was ist Ihnen am meisten in Erinnerung geblieben?
Ich habe ein weiteres Kleid von Madame Grès, das mir sehr am Herzen liegt. Meine Familie ist über Generationen in der Bekleidungsbranche tätig gewesen, und meine jüdische Großmutter hat oft von Madame Grès gesprochen – sie besaß einige Schals von ihr. Ich war also schon sehr früh von ihr fasziniert.
Es gab das Gerücht, dass Alix Grès während des Krieges, bevor ihre Boutique von den Nazis geschlossen wurde, ihre Kleider mit einem eingenähten Davidstern verzierte. Wenn ihre Stücke aus den Kriegstagen bei Auktionen angeboten werden, kaufe ich sie genau aus diesem Grund.
Eines Tages fand ich ein wunderschönes Kleid im griechischen Stil aus schwarzer und roter Seide, das in dieser Zeit entstanden war. Ich sah hinein und entdeckte zwei weiße Sterne, die in die Innenseiten genäht waren. Ich habe geweint, ja gezittert. Sie dürfen nicht vergessen, dass die Juden von den Nazis gezwungen wurden, als Erkennungszeichen einen Davidstern am Arm zu tragen. Der Stern wurde ein Symbol der Schande. Madame Grès hat ihn zurückgeholt und ihm seine Schönheit wiedergegeben.
Erinnern Sie sich an das erste Vintage-Stück, das Sie gekauft haben?
In meinem zweiten Studienjahr habe ich mir ein wunderschönes, mit goldenen Perlen besticktes gelbes Kleid gekauft – ich habe es immer noch. Es hat kein Markenetikett, doch es sieht aus wie ein Couture-Kleid, wunderschön gearbeitet, mit einer typischen Fünfzigerjahre-Silhouette und einem passenden Umhang. Es hat mich 88 Dollar gekostet, das war damals für mich eine Stange Geld. Ich bin seit vielen Jahren in der Politik tätig, das Kleid habe ich bei den Amtseinführungen der Präsidenten getragen, die ich unterstützt habe, auch bei der ersten und zweiten Antrittsrede von Barack Obama.
Wir denken meist, dass es europäische Designer*innen waren, die die Mode nach dem Zweiten Weltkrieg dominiert haben. Ist das eine Fehleinschätzung?
In Amerika gab es sehr viele fantastische Designer*innen, die zu dieser Zeit Dinge von großer Bedeutung kreiert haben. Mir gefallen beispielsweise die Kombinationen aus Tweedwolle von Adolfo [the Cuban-born designer who immigrated to New York as a teenager] besser als die Entwürfe von Coco Chanel. Adolfo hat in den Sechzigerjahren mit seinen preisgekrönten Hüten und Couture-Kleidern die Mode im Sturm erobert.
Dann gab es Lilli Ann [founded in San Francisco in 1934 by businessman Adolph Schuman and named after his wife], die in den Vierziger- und Fünfzigerjahren phänomenale Swing-Mäntel schneiderte – ich habe einige davon. Sie sind aus Polyester hergestellt und mit Seide gefüttert. Polyester war damals ein ganz neues und aufregendes Material.
Und noch mal zurück zu Vera Neumann: Sie war die Wegbereiterin für das Multiprodukt-Branding – von den Schals ging sie über zu Bekleidung und Haushaltswaren. Meine Großmutter hatte einen von ihr entworfenen Duschvorhang! Geschichten wie diese regen uns an, über Mode im Kontext des Wandels nachzudenken. Industrialisierung, Feminismus, Politik – viele Aspekte rücken in den Fokus.
Was ist Ihr ungewöhnlichstes Stück?
Ich habe eine Kollektion Papierkleider, die in den Sechzigerjahren sehr beliebt waren. Das Konzept sah vor, dass sie nur einmal getragen und anschließend weggeworfen werden sollten. Sie waren als wandelnde Werbung gedacht, eines der ersten – für die Telefongesellschaft Southwestern Bell – bestand aus Telefonbuchseiten. Auch für Campbell’s Soup gab es ein solches Kleid. Sie fanden auch schnell als modische Statements Einzug in die Politik: Wenn Sie also Nixon unterstützen wollten, konnten Sie ein Einwegkleid mit einem Nixon-Motiv tragen. Solche Kleider sind sehr selten, das versteht sich von selbst, doch gelegentlich taucht ein Exemplar auf, in perfektem Zustand und in Originalverpackung – so etwas ist natürlich ein fantastischer Fund!
Abgesehen von Madame Grès, wessen Geschichte würden Sie gerne in Ihrem historischen Museum darstellen?
Anfang des 20. Jahrhunderts war Amerika ein Ort der Verheißung, und ich glaube, Hattie Carnegies Geschichte ist dafür exemplarisch. Sie stammte ursprünglich aus Wien, wanderte mit ihrer Familie nach Amerika aus und stieg hier [in 1909] in die Modebranche ein – zunächst mit Hüten. Sie änderte ihren Familiennamen nach dem Stahlmagnaten Andrew Carnegie, weil sie ernst genommen werden wollte und der Meinung war, der Name verliehe ihr mehr Autorität.
Das schien Wirkung gehabt zu haben, denn sie wurde eine der bedeutendsten Designerinnen im Amerika der 1930er-Jahre. Sie entwarf unglaubliche Kleider, Hüte und Modeschmuck. Ich habe viele ihrer Stücke. Aber eigentlich habe ich von allem viel: von Saint Laurent, Marc Bohan für Dior, Giorgio Sant’Angelo, Oscar de la Renta. Dies sind innovative Personen, deren Visionen unsere Welt auf einzigartige Weise verändert haben. Ihre Kollektionen ermöglichen uns, in die Vergangenheit zu reisen. Das gehört zu diesem verborgenen Zauber, den wir verspüren, wenn wir ihre Kleider tragen.